Julia Bruderer: Ahnen – Ein Blick in den Garten der Zeit

„Wer sind wir und woher kommen wir?“, diese Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch Julia Bruderers künstlerisches Schaffen. Sie ist jedoch dem Anspruch fern, eine endgültige Antwort darauf zu finden. Vielmehr ist sie an der Erforschung unserer evolutionären Geschichte interessiert, am Gedanken, etwas Vergangenes, Verstorbenes, ja sogar Ausgestorbenes ins Jetzt zu bringen und in neuer Form zu würdigen.
Das berühmte 3.2 Mio. Jahre alte Fossil der Australopithecus afarensis Dame „Lucy“ war die Vorlage für Julia Bruderers erstes grosses Kunstprojekt zum Thema menschliche Evolution. Das grossformatige Triptychon zelebriert Lucy als Sinnbild des Anfangs der Menschheit und spiegelt in seiner Komplexität die Vielfalt und Gegensätze unseres Daseins wieder. Was vorerst wie eine wissenschaftliche Anatomiestudie wirkt, stellt sich bei näherem Betrachten als seelischer Mikrokosmos dar.
Auch in Bruderers jüngster Arbeit „Frühstück im Garten“ steht die verborgene Vielfalt unserer Existenz im Vordergrund. In der grossformatigen Tuschezeichnung interpretiert sie das berühmte Sujet aus Manets „Le Déjeuner sur l’herbe” neu: die nackten Frauenfiguren werden durch die 4.5 Millionen Jahre alte Vorfahrin Ardipithecus ramidus, kurz „Ardi“, und einer noch weiter entfernten Ahnen, ein Gorillaweibchen ersetzt, während Manets elegante Herren wie amorphe Gestalten der Gegenwart wirken. Die zahlreichen Referenzen aus der Kunst, der Geschichte und den Naturwissenschaften verschiedener Zeitepochen fliessen in einer Art organischer Collagearbeit ineinander und schaffen somit neue Assoziationen.
In der „Ahnengalerie“ hat sich Julia Bruderer von der Portraitmalerei der letzten sechs Jahrhunderte inspirieren lassen. Nur posieren in ihren Ölbildern Lebewesen, welche vor 500 Millionen Jahren während des Kambriums die Erde „bevölkerten“. Humorvoll präsentiert sie diese fremden Kreaturen als wären sie unsere verstorbenen Familienmitglieder und stellt spielerisch unseren Ursprung in Frage.
Julia Bruderer führt uns in ihrer ersten Einzelausstellung in eine Welt, in der die Realität mit der Fantasie, das Ewige mit dem Vergänglichen und der Mensch mit dem Tier verschmelzen. In ihrer Welt gehen der Tod und das Leben Hand in Hand. Sie gräbt längst ausgestorbene Wesen wieder aus und holt sie mit kreativer Verspieltheit erneut ins Leben. Gleichzeitig erinnern jedoch ihre Gestalten aus der fernen Vergangenheit an unsere eigene Sterblichkeit.


Jacinta Barth

Julia Bruderer (*1982, lebt und arbeitet in Zürich) hat 2005 mit einem Bachelor of Fine Arts in Illustration die Parsons School of Design in Paris und New York absolviert. 2009 graduierte sie mit einem Master in Kommunikationsdesign an der Central Saint Martins School of Art and Design in London, und gewann im gleichen Jahr den ersten Preis beim renommierten Swatch Young Illustrators Award an der Illustrative in Berlin.